Zusammensetzung der Leitliniengruppe
Die fachliche, inhaltliche Angemessenheit einer Leitlinie wird durch die Leitliniengruppe erzeugt, die sinnvollerweise erfahrene Anwendende (z.B. Ärzt*innen, Pflegekräfte, Physiotherapeut*innen, Psycholog*innen, Angehörige weiterer Berufsgruppen) und Patienten*innen bzw. Bürger*innen repräsentiert. Durch eine ausgewogene Zusammenstellung der Leitliniengruppe werden gute Voraussetzungen für die umfassende Identifizierung möglicher Praxisprobleme und die kritische Bewertung sämtlicher relevanter Evidenz geschaffen (1-3). Dadurch sollen auch mögliche Verzerrungen durch den Einfluss von Partikularinteressen vermieden werden (4-6).
Es gibt keine Mindestanzahl an zu beteiligenden Fachgesellschaften / Organisationen. Dies hängt vom Thema, der Zielorientierung der Leitlinie sowie der Zielgruppe der Leitlinie ab. Die Auswahl der Mitglieder sollte professionelle und wissenschaftliche Expertise im Themenbereich der Leitlinie repräsentieren sowie die Perspektive der Betroffenen (7). Die Berücksichtigung der Ansichten und Präferenzen der Betroffenen sollte, wann immer möglich, durch direkte Beteiligung erfolgen (8).
Zielorientierung der Leitlinie
Zusätzlich wird empfohlen, Personen mit Erfahrung in der methodischen Vorgehensweise der Leitlinienentwicklung und Evidenzbasierten Medizin frühzeitig einzubinden. Dies können qualifizierte Mitglieder der Leitliniengruppe sein oder extern beauftragte Methodiker*innen. Für die Qualifikation von Leitlinienentwickler*innen hält die AWMF ein Fortbildungsangebot vor.
Je vollständiger die Leitliniengruppe ist, desto wahrscheinlicher ist es, dass die Akzeptanz und Anwendung der Leitlinie steigen.
AWMF-Regel für das Leitlinienregister: Klassifikation S2- und S3-Leitlinien (Auszug):
Handelt es sich um eine S2k- oder S3- Leitlinie ist die Leitliniengruppe repräsentativ für den Adressatenkreis und sind Vertreter*innen der entsprechend zu beteiligenden Fachgesellschaft(en) und/oder Organisation(en) inkl. der Patient*innen/Bürger*innen in die Leitlinienentwicklung frühzeitig eingebunden (siehe AGREE II-Kriterium 4+5).
Handelt es sich um eine S2e -Leitlinie werden die Sichtweise und die Präferenzen der Patient*innen/Bürger*innen ermittelt (siehe AGREE II-Kriterium 5).
Komplette Übersicht der Stufenklassifikationen
Bezug zum AGREE II-Instrument:
Domäne 1: Geltungsbereich und Zweck
Kriterium 3: Die Zielpopulation (z.B. Patient*innen, Bevölkerung) der Leitlinie ist eindeutig beschrieben.
Domäne 2: Beteiligung von Interessengruppen
Kriterium 4: Die Entwicklergruppe der Leitlinie schließt Mitglieder aller relevanten Berufsgruppen ein.
Kriterium 5: Die Ansichten und Präferenzen der Zielpopulation (z.B. Patient*innen, Bevölkerung) wurden ermittelt.
Kriterium 6: Die Anwender*innenzielgruppe der Leitlinie ist eindeutig beschrieben.
Hilfen und Tipps:
Im Allgemeinen informiert der/die Initiierende / Koordinierende / das Leitliniensekretariat des Leitlinienprojektes im Abgleich mit den Adressat*innen die relevanten Fachgesellschaften und Organisationen über das geplante Projekt und lädt diese zur Mitarbeit ein (siehe Anhang 1). Die Anzahl der federführenden Fachgesellschaften/Organisationen sollte nach Möglichkeit drei nicht übersteigen, um ein effizientes Projektmanagement zu gewährleisten. Jede Fachgesellschaft sollte für sich ein Standardprozedere zur Nominierung von Mandatstragenden festlegen.
Anhang 1: Musterbrief „Benennung von Mandatstragenden“
Die Mandatstragenden vertreten mit ihrer fachlichen Expertise die Fachgesellschaft/ Organisation. Erfahrungen mit der Erstellung und Umsetzung von Leitlinien sind wünschenswert. Mandatstragende arbeiten bei der Leitlinienerstellung mit und berichten Ergebnisse im laufenden Leitlinienprozess vertraulich an die sie mandatierende Fachgesellschaft/Organisation. Die Rollen und Aufgaben von Mandatstragenden in Bezug auf aktive Mitarbeit, Berichterstattung an ihren Vorstand während des Erstellungsprozesses (inkl. etwaiger Besonderheiten, wie kurze Fristen bei „Living Guidelines“ siehe Planung der Aktualisierung) und im Rahmen der Gesamtverabschiedung durch die mandatierende Fachgesellschaft/Organisation sollten frühzeitig, idealerweise im Rahmen der konstituierenden Treffen der Leitliniengruppe geklärt und festgelegt werden. Gegebenenfalls ist auch eine entsprechende Information durch die Koordinierenden an die Vorstände der beteiligten Fachgesellschaften/Organisationen hilfreich, da die kurzen Fristen auch die Verabschiedung betreffen.
Im Hinblick auf die Abbildung der Betroffenenperspektive ist zunächst an die Beteiligung von Organisationen der Selbsthilfe zu denken, die sich zum Leitlinienthema engagieren und, falls solche nicht gefunden werden, an Dachverbände der Selbsthilfe wie z.B. die Bundesarbeitsgemeinschaft Selbsthilfe (BAG), die Deutsche Arbeitsgemeinschaft Selbsthilfegruppen (DAG-SHG) oder die Nationale Kontakt- und Informationsstelle zur Anregung und Unterstützung der Selbsthilfe (NAKOS). Wenn dies nicht möglich ist, sollte zur Ergänzung des Wissens eine orientierende Literatursuche nach Studien zur Perspektive der betroffenen Patient*innen/Bürger*innen oder eine Befragung derselben in Form eines Surveys oder einer Fokusgruppe durchgeführt werden (9).
Die Anmeldung von Leitlinienprojekten ist im AWMF-Register öffentlich zugänglich und kann über einen RSS-Feed abgerufen werden. So können sich auch bisher nicht beteiligte Fachgesellschaften/Organisationen bei den Koordinierenden zur Mitarbeit melden. Koordinierenden wird empfohlen, Möglichkeiten der Beteiligung oder Gründe für eine Nicht- Beteiligung im Dialog mit Anfragenden zu klären und das Ergebnis im Leitlinienreport zu dokumentieren.
Bei der Zusammensetzung der Leitliniengruppe sind folgende Fragen zu beantworten:
- Wer ist von den Empfehlungen betroffen und wen beziehe ich demzufolge ein?
- Wer kann wie zum Gelingen des Projektes beitragen (klinische, persönliche, methodische Expertise, Perspektive und Erfahrungen)?
- Wie kann die Perspektive von betroffenen Patient*innen/Bürger*innen einbezogen werden: direkt durch Beteiligung entsprechender Organisationen/Personen oder indirekt über eine Literatursuche, durch Befragen von Fokusgruppen oder Durchführen eines Surveys?
Literatur
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AGREE Collaboration. Appraisal of Guidelines for Research & Evaluation II - AGREE II Instrument - Deutsche Version: AGREE NEXT STEPS Consortium; 2014. Hier als Download verfügbar
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Pagliari C, Grimshaw J. Impact of group structure and process on multidisciplinary evidence-based guideline development: an observational study. J Eval Clin Pract. 2002;8(2):145-53.
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McMaster University. GIN-McMaster Guideline Development Checklist. Hamilton, Ontario 2014. Verfügbar: http://cebgrade.mcmaster.ca/guidecheck.html (Zugriff 08.05.2023)
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Hutchings A, Raine R. A systematic review of factors affecting the judgments produced by formal consensus development methods in health care. J Health Serv Res Policy. 2006 Jul;11(3):172-9.
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Institute of Medicine (US). Clinical Practice Guidelines We Can Trust. Graham R, Mancher M, Miller Wolman D, et al., editors. Washington (DC): National Academies Press (US); 2011. 290p
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Kopp IB, Selbmann HK, Koller M. Konsensfindung in evidenzbasierten Leitlinien - vom Mythos zur rationalen Strategie [Consensus development in evidence-based guidelines: from myths to rational strategies]. Z Arztl Fortbild Qualitatssich. 2007;101(2):89-95. German.
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Qaseem A, Forland F, Macbeth F, Ollenschläger G, Phillips S, van der Wees P, et al. Board of Trustees of the Guidelines International Network: toward International standards for clinical practice guidelines. Ann Intern Med. 2012 Apr 3;156(7):525-31.
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Armstrong MJ, Mullins CD, Gronseth GS, Gagliardi AR. Impact of patient involvement on clinical practice guideline development: a parallel group study. Implementation Sci. 2018 Apr 16;13(1):55.
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Guidelines International Network. G-I-N PUBLIC Toolkit: Patient and Public Involvement in Guidelines 2015. Verfügbar: https://g-i-n.net/toolkit/ (Zugriff 08.05.2023)