Formulierung und Graduierung von Empfehlungen

Formulierung von Empfehlungen

Leitlinienempfehlungen sollten eindeutig und spezifisch formuliert werden und handlungsleitend sein (1). Dazu dient die Prüfung, ob die Formulierungen einer konditionalen Logik folgen: Sind die Bedingungen für die empfohlene präventive, diagnostische oder therapeutische Intervention eindeutig dargestellt (Wenn...dann)? Sind die Formulierungen in Bezug auf die adressierten Patient*innen/Bürger*innen und die Intervention präzise?

Leitlinien-Nutzende sollen über etwaige Handlungsalternativen informiert werden (siehe auch Entscheidungshilfen im Abschnitt „Laienverständliche Formate“). Sofern diese in den Empfehlungen nicht abgebildet sind, sollten sie im begleitenden Text adressiert werden.

Geprüft werden sollte auch, ob für besondere Personengruppen eigene Empfehlungen erforderlich sind (2, 3).

Weiterhin sollten die Wortwahl für die Stärke einer Empfehlung und der angegebene Empfehlungsgrad übereinstimmen (z.B. „wir empfehlen“ oder „soll“ für eine starke Empfehlung und „wir schlagen vor“ oder „sollte“ für eine konditionale bzw. abgeschwächte Empfehlung; siehe Graduierung von Empfehlungen).

Unterscheidung Statement/Empfehlung

Eine wichtige Unterscheidung besteht zwischen Aussagen („Statements“, z.B. XY ist wirksam/unwirksam oder Definitionen) und handlungsleitenden Empfehlungen (z.B. XY soll eingesetzt/nicht eingesetzt werden).

Die Formulierung von Handlungsempfehlungen, in die explizit eine klinische Wertung der Aussagekraft (Relevanz) und Anwendbarkeit von Studienergebnissen und die Abwägung potenziellen Nutzens und Schadens der Zielintervention eingehen, ist ein wichtiges Charakteristikum von Leitlinien und unterscheidet sie von anderen Quellen aufbereiteten Wissens wie Evidenzberichten, Systematischen Übersichtsarbeiten oder Health Technology Assessments.

Sie gibt den Leitlinien-Nutzenden eine notwendige Orientierung, auch hinsichtlich verbleibender Unsicherheiten vor dem Hintergrund der identifizierten Studienevidenz. Empfehlungen stellen Einschätzungen der Leitliniengruppe dar (4).

Demgegenüber können Statements (=Aussagen) als Tatsachenbehauptungen verstanden werden, die potenziell justiziabel sind. Daher ist für Aussagen, sofern sie benötigt werden, die Untermauerung durch Quellenangaben (Literatur) bzw. eine gut dokumentierte Evidenzsynthese besonders unerlässlich. 

Systematische Evidenzbasierung

Empfehlungsformulierung auf der Basis bestehender Leitlinien

Empfehlungen auf Basis von bereits existierenden Leitlinienempfehlungen können entweder unverändert übernommen werden („Adoption“) oder aber bei gesehenem Bedarf abgeändert werden, wenn die Leitliniengruppe z.B. zu einer anderen Einschätzung der Evidenzsicherheit oder der Abwägung von Nutzen und Schaden kommt (Adaptation). Dies kann den Empfehlungsgrad oder Inhalte betreffen. Die Veränderung sollte im begleitenden Text begründet werden (5).

Hilfen und Tipps – Bewertung der Evidenz

Adoption und Adaptation von Leitlinienempfehlungen

Graduierung von Empfehlungen

Die Vergabe von Empfehlungsgraden dient der Darlegung der Einschätzung der Leitliniengruppe, inwieweit die erwünschten Konsequenzen einer Empfehlung gegenüber den negativen Konsequenzen überwiegen (6, 7) bzw. umgekehrt (8).

Die Graduierung der Empfehlungen basiert auf einer Nutzen-Schaden Abwägung, dem Vertrauen in die identifizierte Evidenz- insbesondere in die Effektstärken-, den Ansichten und Präferenzen der betroffenen Patient*innen/Bürger*innen (9) sowie der klinischen Expertise der Leitliniengruppe und schließt damit explizit auch subjektiv wertende Elemente ein. Je sicherer der Nutzen und die breite Anwendbarkeit eingeschätzt wird, desto eher wird eine starke Empfehlung ausgesprochen werden.

Bei S3-Leitlinien werden im Rahmen der formalen Konsensfindung zur Verabschiedung der Empfehlungen die methodisch aufbereitete Evidenz unter klinischen Gesichtspunkten gewertet und die Empfehlungen auf dieser Grundlage diskutiert.

Abschließend wird die Stärke der Empfehlungen festgestellt und ein Empfehlungsgrad angegeben. Bei der Diskussion und Vergabe der Empfehlungsgrade sollten in Zusammenschau mit der zugrunde liegenden Evidenz konkret die folgenden Aspekte berücksichtigt werden (in Anlehnung an (12)):

  • Wie substanziell sind der erwartete Nutzen und der erwartete Schaden der Intervention?
  • Wie sicher ist die zugrundliegende Evidenz, bzw. bzw. wie vertrauenswürdig sind die Effektschätzer? Zu welchen Endpunkten oder Teilfragestellungen fehlt Evidenz?“
  • Wie wichtig sind die Endpunkte?
  • Wie sicher ist die Einschätzung der Ansichten und Präferenzen der betroffenen Patient*innen/Bürger*innen bzw. deren Variabilität?
  • Wie sehr spricht die Abwägung von Nutzen und Schaden in Bezug auf individuelle patientenrelevante Endpunkte, aber ggf. auch in Bezug auf populationsbasierte Endpunkte wie Klimaverträglichkeit (CO2-Bilanz) und Nachhaltigkeit (z.B. im Hinblick auf Müllvermeidung) für die Intervention?
  • Spricht die Kosten-Nutzen-Abwägung für die Intervention?
  • Wie wird die Umsetzbarkeit im Alltag / in verschiedenen Versorgungsbereichen in Bezug auf Akzeptanz und Umsetzbarkeit eingeschätzt?
  • Gibt es soziale, ethische, und/oder rechtliche Erwägungen, die die Empfehlungsstärke beeinflussen (10)?

Evidenzgrade und Empfehlungsgrade können somit voneinander abweichen. Eine Begründung des Empfehlungsgrades anhand der genannten Kriterien der Wertung sollte in einem Kommentar bzw. Hintergrundtext zur Empfehlung dokumentiert werden.

Die zusätzliche Angabe der Konsensstärke (Anteil der Zustimmung der Leitliniengruppe) für jede Empfehlung gibt den Leitlinien-Nutzenden einen Eindruck vom Ausmaß der Zustimmung der Beteiligten.

Bei konsensbasierten Leitlinien (S2k) erfolgt die Verabschiedung und Feststellung der Stärke der Empfehlungen im formalen Konsensusverfahren, jedoch ist die Angabe von schematischen Empfehlungsgraden oder Evidenzgraden nicht vorgesehen, da keine systematische Aufbereitung der Evidenz zugrunde liegt. Der Grad einer Empfehlung wird sprachlich ausgedrückt.

Bei evidenzbasierten Leitlinien (S2e) kann die Verabschiedung und Feststellung der Stärke der Empfehlungen im informellen Konsensusverfahren erfolgen, das Anwenden eines strukturierten Konsensusverfahrens ist optional. Bei der Diskussion und Vergabe der Empfehlungsgrade sollte neben der methodischen Bewertung der zugrunde liegenden Evidenz auch die klinische Wertung analog zum Verfahren bei S3-Leitlinien angewandt werden.

AWMF-Regel für das Leitlinienregister: Klassifikation S2- und S3-Leitlinien (Auszug):

Handelt es sich um eine S2k- oder S3-Leitlinie

  • sind die Methoden zur Formulierung der Empfehlungen klar beschrieben, dazu sind formale, strukturierte Konsensustechniken erforderlich (z.B. Konsensuskonferenz, Nominaler Gruppenprozess oder Delphi-Verfahren (s. AGREE II, Kriterium 10).
  • wird jede Empfehlung im Rahmen einer strukturierten Konsensfindung unter neutraler Moderation diskutiert und abgestimmt, deren Ziele die Lösung noch offener Entscheidungsprobleme, eine abschließende Graduierung der Empfehlungen (S2k- Leitlinie) bzw. Festlegung des Empfehlungsgrades (S3-Leitlinie) und die Messung der Konsensstärke sind.

Bezug zum AGREE II-Instrument

Domäne 3: Genauigkeit der Leitlinien-Entwicklung

Kriterium 10: Das methodische Vorgehen bei der Formulierung der Empfehlungen ist eindeutig beschrieben.

Kriterium 11: Der gesundheitliche Nutzen, Nebenwirkungen und Risiken wurden bei der Formulierung der Empfehlungen berücksichtigt.

Domäne 4: Klarheit und Gestaltung

Kriterium 15: Die Empfehlungen der Leitlinie sind spezifisch und eindeutig.

Kriterium 16: Die unterschiedlichen Alternativen für die Behandlung der Erkrankung oder des Gesundheitsproblems sind eindeutig dargestellt.

Hilfen und Tipps

Es existieren verschiedene Schemata zur Graduierung von Empfehlungen. Eine Überlegenheit einer bestimmten Formulierung hat sich bisher nicht gezeigt (11). Negative Empfehlungen wurden in Untersuchungen von Leitlinien-Nutzenden und -Erstellenden verbindlicher wahrgenommen als positive (12, 13). Empfohlen wird die Verwendung des aufgeführten dreistufigen (siehe Tabelle 4) oder zweistufigen Schemas (siehe Tabelle 5 – Schema nach GRADE), es sind unterschiedliche Formulierungen gebräuchlich.

Tabelle 4: Dreistufiges Schema zur Graduierung von Empfehlungen

Tabelle 5: Zweistufiges Schema zur Graduierung von Empfehlungen (GRADE)

 

Auch bei Nutzung des Schemas nach GRADE kann eine offene Empfehlung vergeben werden. Dies sollte im Leitlinientext begründet werden, da GRADE in Situationen der Unsicherheit des Wissens bevorzugt empfiehlt, diese zu adressieren und auf eine Empfehlung zu verzichten.
Um die Unterscheidung der Empfehlungsstärken deutlich zu machen, können ergänzend Symbole verwendet werden, dies ist auch bei konsensbasierten Empfehlungen möglich siehe Tab. 4 und 5 (14).

Damit die Entscheidung für eine bestimmte Empfehlungsstärke für alle Beteiligten und auch für die Leitlinien-Nutzenden nachvollziehbar ist, ist eine strukturierte Darlegung der Entscheidungskriterien hilfreich (15, 16). Dies ist in digitalen Leitlinienwerkzeugen einfach möglich siehe Abb. 9 (16, 17).

Abbildung 9: Beispiel für die strukturierte Darlegung von Entscheidungskriterien für eine Empfehlung: GRADE Evidence to Decision Framework (EtD) in der Ansicht der GRADEpro Software

Literatur

  1. McMaster University. GIN-McMaster Guideline Development Checklist: 14. Wording of Recommendations and of Considerations of Implementation, Feasibility and Equity. Hamilton, Ontario2014. Verfügbar: https://cebgrade.mcmaster.ca/guidelinechecklistonline.html#Wordingtable (Zugriff 08.05.2023)
  2. Nothacker M, Muche-Borowski C, Kopp IB. Medizinische Leitlinien und Individualisierung - Expertise; Arbeitsgemeinschaft der Wissenschaftlichen Medizinischen Fachgesellschaften - Institut für Medizinisches Wissensmanagement (AWMF-IMWi); 2014; Verfügbar: https://www.bundesaerztekammer.de/fileadmin/user_upload/downloads/Leitlinien_Individualisierung_Noth acker.pdf (Zugriff 08.05.2023).
  3. Welch VA, Akl EA, Guyatt G, Pottie K, Eslava-Schmalbach J, Ansari MT, et al. GRADE equity guidelines 1: considering health equity in GRADE guideline development: introduction and rationale. J Clin Epidemiol. 2017;90:59-67.
  4. Wienke A. Medizinische Leitlinien sind wettbewerbsrechtlich nicht justiziabel: Oberlandesgericht Köln weist Klage eines Pharmaunternehmens ab. GMS Mitt AWMF [Internet]. 2012; 9:Doc25. Verfügbar: http://www.egms.de/static/en/journals/awmf/2012-9/awmf000273.shtml (Zugriff 08.05.2023)
  5. Schünemann HJ, Wiercioch W, Brozek J, Etxeandia-Ikobaltzeta I, Mustafa RA, Manja V, et al. GRADE Evidence to Decision (EtD) frameworks for adoption, adaptation, and de novo development of trustworthy recommendations: GRADE-ADOLOPMENT. J Clin Epidemiol. 2017;81:101-10.
  6. Institute of Medicine (US). Clinical Practice Guidelines We Can Trust. Graham R, Mancher M, Miller- Wolman D, Greenfield S, Steinberg E, editors. Washington (DC): The National Academies Press; 2011. 290p
  7. Qaseem A, Forland F, Macbeth F, Ollenschläger G, Phillips S, van der Wees P. Board of Trustees of the Guidelines International Network. Guidelines International Network: toward international standards for clinical practice guidelines. Ann Intern Med. 2012 Apr 3;156(7):525-31.
  8. McMaster University. GIN-McMaster Guideline Development Checklist: 13. Developing Recommendations and Determining their Strength. Hamilton, Ontario, 2014. Verfügbar: https://cebgrade.mcmaster.ca/guidelinechecklistonline.html#Developingtable (Zugriff 08.05.2023)
  9. Andrews JC, Schünemann HJ, Oxman AD, Pottie K, Meerpohl JJ, Coello PA, et al. GRADE guidelines: 15. Going from evidence to recommendation-determinants of a recommendation's direction and strength. J Clin Epidemiol. 2013 Jul;66(7):726-35.
  10. Pottie K, Welch V, Morton R, Akl EA, Eslava-Schmalbach JH, Katikireddi V, et al. GRADE equity guidelines 4: considering health equity in GRADE guideline development: evidence to decision process. J Clin Epidemiol. 2017 Oct;90:84-91.
  11. Akl EA, Guyatt GH, Irani J, Feldstein D, Wasi P, Shaw E, et al. “Might” or “suggest”? No wording approach was clearly superior in conveying the strength of recommendation. J Clin Epidemiol. 2012 Mar;65(3):268- 75.
  12. Weberschock T, Dreher A, Follmann M, Nothacker M, Kopp I, Rosumek S, et al. Verbindlichkeit von Empfehlungsformulierungen in Leitlinien: Survey zur Wahrnehmung unter Leitlinienentwicklern [Obligation of guideline recommendations: Perception survey among guideline developers]. Z Evid Fortbild Qual Gesundhwes. 2016;113:1-8. German
  13. Nast A, Sporbeck B, Jacobs A, Erdmann R, Roll S, Sauerland U, et al. Study of perceptions of the extent to which guideline recommendations are binding: a survey of commonly used terminology. Dtsch Arztebl Int. 2013 Oct;110(40):663-8.
  14. Bundesärztekammer (BÄK), Kassenärztliche Bundesvereinigung (KBV), Arbeitsgemeinschaft der Wissenschaftlichen Medizinischen Fachgesellschaften (AWMF). Programm für Nationale VersorgungsLeitlinien. Methodenreport. 5. Auflage. Verfügbar: https://www.leitlinien.de/methodik/methodenreport/1-ziele-grundlagen (Zugriff 08.05.2023)
  15. Alonso-Coello P, Schünemann H, Moberg J, Brignardello-Petersen R, Akl E, Davoli M, et al. GRADE Evidence to Decision (EtD) frameworks: a systematic and transparent approach to making well informed healthcare choices. 1: Introduction. BMJ. 2016 Jun 28.
  16. MAGIC Foundation. MagicApp. Verfügbar: https://app.magicapp.org (Zugriff 08.05.2023)
  17. McMaster University and Evidence Prime Inc. GRADEpro. 2019. Verfügbar: https://gradepro.org/ (Zugriff 08.05.2023)

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