Stellungnahme der AWMF zum überarbeiteten Kapitel „2.1 Nutzenbewertung in der Medizin“ des Methodenpapiers Version 2 des IQWiG vom 28.09.06 (Oktober 2006)
Das Kapitel "2.1 Nutzenbewertung in der Medizin" ist das zentrale Kapitel des Methodenpapiers des IQWiG, weil es nahezu alle im SGB V festgelegten Aufgaben des IQWiG berührt. Deshalb begrüßt die AWMF ausdrücklich, dass sein Umfang gegenüber der ersten Version von 2005 verzehnfacht wurde, ein Zeichen dafür, dass die Version von 2005 keineswegs jene Transparenz besaß, die ihr immer zugesprochen worden war. Allerdings reichen auch die sieben DIN A4 Seiten nicht aus, um der Bedeutung der Nutzenbewertung und dem Anspruch des IQWiG auf Transparenz gerecht zu werden.
Begrüßenswerte Aufnahme von fünf patienten-relevanten Zielgrößen
Erfreulich ist die neu aufgenommene Aufzählung der fünf patienten-relevanten Zielgrößen:
- Mortalität
- Morbidität
- gesundheitsbezogene Lebensqualität
- interventions- und krankheitsbezogener Aufwand und
- Patientenzufriedenheit
deren positive Veränderungen als direkter patienten-relevanter medizinischer Nutzen, deren negative Veränderungen als direkter patienten-relevanter medizinischer Nachteil bzw. Schaden angesehen werden müssen. Leider gibt es in dem Methodenpapier keine ähnliche Enumerierung für den indirekten Nutzen/Schaden.
Insbesondere die Aufnahme der gesundheitsbezogenen Lebensqualität, genauer der auf die spezifische Erkrankung bezogenen Lebensqualität, des zusätzlichen Aufwandes für den Patienten und der Patientenzufriedenheit, die der Nutzenbewertung eine deutlich stärkere Patientenorientierung gibt, entspricht den Vorstellungen der AWMF. Patientenorientierung und Pa-tientenpräferenzen stehen bei der Leitlinienentwicklung der Fachgesellschaften und bei den behandelnden Ärzten in der Regel ganz weit vorne.
Neuformulierung der bewertenden Aussagen pro Zielgröße notwendig
Nach dem Verfahrensvorschlag des IQWiG "wird zunächst für jeden vorher definierten patienten-relevanten Endpunkt einzeln aufgrund der Analyse vorhandener wissenschaftlicher Daten genau eine der fünf folgenden bewertenden Aussagen getroffen:
- Ein Nutzen (Schaden) liegt vor
- Hinweise liegen vor, dass ein Nutzen (Schaden) vorhanden ist
- Kein Nutzen (Schaden) liegt vor
- Hinweise liegen vor, dass kein Nutzen (Schaden) vorhanden ist
- Kein Beleg für und kein Hinweis auf einen Nutzen (Schaden) liegen vor."
Abgesehen davon, dass die Begriffe "Belege" und Hinweise" nicht definiert wurden, müssen solche Aussagen stets als Wahrscheinlichkeitsaussagen formuliert werden. Zum einen arbeitet die Statistik immer mit Irrtumswahrscheinlichkeiten, zum anderen können sich die Aussagen nur auf die vorher konkretisierten patienten-relevanten Endpunkte beziehen. Es ist aber nicht auszuschließen, dass z.B. erst später ein Schaden/Nutzen beobachtet und gemessen wird, der zu einer anderen Einstufung der Nutzen/Schaden-Aussage führen könnte.
Notwendigkeit der Einbeziehung von Studien niedrigerer Evidenzstärke bei der Bewertung von Lebensqualität, Patienten-Aufwand und Patientenzufriedenheit
Es muss einmal mehr darauf hingewiesen werden, dass das Fehlen hochwertiger Belege für einen Nutzen/Schaden nicht gleichbedeutend ist mit dem Fehlen eines Nutzen/Schadens (Nr. 5 der bewertenden Aussagen). Da die patientenbezogene klinische Forschung eben erst dabei ist, die Methodik der Messung und der internationalen Vergleichbarkeit von Lebensqualität, Patienten-Aufwand und Patientenzufriedenheit - siehe zum Beispiel die Ansätze der FDA zum "Patient Reported Outcome" vom Januar 2006 - zu standardisieren, ist davon auszugehen, dass für diese Zielgrößen hochwertige Studien nicht in ausreichendem Masse vorliegen, um damit z.B. gute systematische Reviews oder gar Metaanalysen durchführen zu können. Daher wird man auch auf Studien mit geringerem Evidenzgrad zurückgreifen müssen.
Intransparenz der zusammenfassenden Nutzen/Schadens-Bewertung
Liegen die bewertenden Aussagen für die fünf patienten-relevanten Zielgrößen vor, sollen sie nach dem Verfahrensvorschlag des IQWiG "in einem bewertenden Fazit in Form einer Nutzen-Schaden-Abwägung zusammengefasst" werden. Die genaue Beschreibung dazu "sollte - wenn dies prospektiv möglich ist - im Berichtsplan und ansonsten im Vorbericht beschrieben werden." Diese vagen Formulierungen machen jedoch den entscheidenden Abschnitt der Nutzen-/Schaden-Bewertung intransparent und bedürfen dringend einer Konkretisierung. Insbesondere sieht die AWMF bei einer retrospektiven Beschreibung des Abwägungsvorgangs die Notwendigkeit einer ausführlichen Begründung, um einen Bewerter-Bias zu vermeiden.
Vorschlag der AWMF
Die AWMF fordert in dem Verfahren zur Nutzenbewertung die Verankerung der frühzeitigen Einbindung des Sachverstands von Vertretern der wissenschaftlichen medizinischen Fachgesellschaften und von Vertretern der Patientenorganisationen, sowohl bei der Vorab-Festlegung der patienten-relevanten Zielgrößen als auch bei der Einstufung der wissenschaftlichen Daten in Wahrscheinlichkeitsklassen für das Vorliegen von Nutzen/Schaden und bei dem bewertenden Fazit in Form einer Nutzen-/Schaden-Abwägung der Zielgrößen. Nur so lässt sich eine wirkliche und von vielen getragene Patientenorientierung der Nutzenbewertung ermöglichen.
Oktober 2006