Resolution zur Änderung des SGB V (April 1997)
Der Präsident der AWMF, Prof. Dr. Hans Reinauer, hat am 18. 4. 1997 folgendes Schreiben an den Bundesgesundheitsminister und die Gesundheitsminister der Länder gerichtet:
Resolution zur Drucksache des Deutschen Bundestages Nr. 13/7264 vom 19.03.97 - Änderung des SGB (V)
Nach § 135 Abs. 1 SGB (V) dürfen neue Untersuchungs- und Behandlungsmethoden in der vertragsärztlichen Versorgung zu Lasten der Krankenkassen nur erbracht werden, wenn die Bundesausschüsse der Ärzte und Krankenkassen Empfehlungen abgegeben haben über die Anerkennung des diagnostischen und therapeutischen Nutzens nach dem jeweiligen Stand der wissenschaftlichen Erkenntnisse.
In dem vorliegenden, vom Deutschen Bundestag bereits verabschiedeten Änderungsentwurf wurde nach dem Wort “Erkenntnisse” der Zusatz “in der jeweiligen Therapierichtung” angeführt. Dieser Zusatz, der sich offenbar auf die Methoden der Beurteilung bezieht und die Forderungen nach einer “Binnenanerkennung” beinhaltet, hebt die in dem vorangehenden Satzteil ausgedrückten Bemühungen um eine wissenschaftlich fundierte Medizin auf.
Kein Bereich der Medizin kann eigene Gesetze der Methodologie wissenschaftlicher Überprüfung erlassen. Die allgemein verbindlichen Gesetze der Logik und der Erkenntnistheorie sind präexistent. Wenn die sogenannten “besonderen Therapierichtungen” die gültigen Methoden des Erkenntnisgewinns, die die Möglichkeit der Falsifizierbarkeit einschließen, nicht anerkennen und eigene Regeln der Wirksamkeitsprüfung aufstellen, verlassen sie den gemeinsamen Boden der Wissenschaftlichkeit. Ein Ersatz eines wissenschaftlichen Wirksamkeitsnachweis durch Rückzug auf eine “Binnenanerkennung” als Schutz vor wissenschaftlichen Überprüfungen darf nicht akzeptiert werden. Jeder Bereich der Medizin muß von allen anderen Bereichen anerkannt und akzeptiert sein.
Unwissenschaftliche medizinische Verfahren beanspruchen zunehmend für sich den Begriff der “besonderen Therapierichtung”. Für diesen Begriff gibt es keinen definierbaren Inhalt außer dem Verzicht auf wissenschaftliche Überprüfbarkeit. Wenn allen selbsternannten “besonderen Therapierichtungen” das Recht zuerkannt würde, diese Methoden für den wissenschaftlichen Erkenntnisgewinn selbst zu definieren, ließen sich keine allgemein verbindlichen Grenzen mehr festlegen. Jedes Sektierertum, jede noch so absurde medizinische Behauptung und sogar in betrügerischer Absicht erfundene neue Verfahren könnten sich unter der Schutz der “Binnenanerkennung” mit dem falschen Mantel einer wissenschaftlich überprüften Methode behängen. Die Arbeitsgemeinschaft der Wissenschaftlichen Medizinischen Fachgesellschaften (AWMF) tritt einer solchen Perversion des Wissenschaftsbegriffs mit aller Deutlichkeit entgegen.
Nicht nur im Interesse des Patientenschutzes, sondern insbesondere auch aus ökonomischen Gründen ist solchen Tendenzen frühzeitig entgegen zu wirken. Alle Bemühungen um eine Begrenzung der Kosten im Gesundheitswesen werden durch die Aufgabe von allgemein verbindlichen Grenzen und Maßstäben sehr ernsthaft gefährdet. Die Einbeziehung wissenschaftlich nicht überprüfter Methoden in die vertragsärztliche Versorgung widerspricht dem Solidaritätsprinzip. Die 107 in der AWMF zusammengeschlossenen wissenschaftlichen Vereinigungen fordern daher den Bundesrat auf, dem im vorliegenden Änderungsentwurf des § 135 Abs. 1 Satz 1 eingefügten Satz “in der jeweiligen Therapierichtung” nicht zuzustimmen.
gez.
Prof. Dr. med. H. Reinauer
- Präsident der AWMF -