Gemeinsame Stellungnahme der AWMF und der Bundesärztekammer zur Version 0.9 des G-DRG-Fallpauschalen-Katalogs des Optionsmodells 2003 (September 2002)
Zur Anhörung beim Bundesministerium für Gesundheit am 3. September 2002 haben AWMF und BÄK gemeinsam folgende Stellungnahme vorgelegt und dort ausführlich begündet:
Die Bundesärztekammer und die AWMF begrüßen, dass ihnen durch das Bundesministerium für Gesundheit noch vor Erlass einer Rechtsverordnung nach § 17 Abs. 7 KHG über ein DRG-Optionsmodell 2003 Gelegenheit zu einer Äußerung über den zu Grunde liegenden Fallpauschalen-Katalog gegeben wird. Sie geben hierzu folgende gemeinsame Stellungnahme ab:
Nachdem die Gesamtverhandlungen der Vertragsparteien über das DRG-Optionsmodell 2003 am 24.06.2002 als gescheitert erklärt wurden, hat die Firma SBG, Berlin, die Handbücher im Auftrage des Bundesministeriums für Gesundheit und des Instituts für das Entgeltsystem im Krankenhaus (InEK gGmbH) fertig gestellt:
- Eine Einbindung der Bundesärztekammer sowie der AWMF und ihrer Fachgesellschaften hat im Rahmen der Erstellung der Handbücher nicht stattgefunden.
- Die bei der Übertragung der australischen AR-DRG-Handbücher, Version 4.1 in die vorgelegten G-DRG-Handbücher genutzte Methodik wurde nicht transparent gemacht.
- Die einen systematischen Vergleich beider Fassungen ermöglichenden und die Übertragung nachvollziehbar machenden Mapping-Tabellen sind nicht zugänglich.
- Eine Validierung der Mapping-Tabellen mittels repräsentativer deutscher Krankenhausdaten ist ebenso unterblieben.
Diese intransparente Vorgehensweise macht eine vollständige Bewertung der in den G-DRG-Handbüchern vorgenommenen Zuordnungen deutscher ICD-10-SGBV- und insbesondere OPS-301-Kodes zu den einzelnen Fallpauschalen innerhalb der kurzen verfügbaren Zeit nicht möglich.
Bereits bei der stichprobenhaften Prüfung wird jedoch deutlich, dass die vorgelegten G-DRG-Handbücher das nach dem Begleittext ihrer Veröffentlichung vorgegebene Ziel einer im Vergleich mit der australischen Version „möglichst unveränderten Fallgruppenzuordnung“ verfehlen. Insbesondere durch die vorgenommenen DRG-Zuordnungen der nicht 1:1 auf die australischen MBS-Kodes überleitbaren deutschen OPS-301-Prozedurenkodes resultieren teils erhebliche Änderungen der Fallgruppendefinitionen. Diese sind hauptsächlich darauf zurück zu führen, dass
- unspezifische MBS-Kodes auf spezifische OPS-301-Kodes gemappt wurden
Beispiel: Der den Kraniotomie-DRGs B02A, B02B, B02C zugeordnete unspezifische MBS-Kode 50200-00 [Biopsy of bone not elsewhere classified] wurde in der G-DRG Version 0.9 offensichtlich auf die OPS-301-Kodes 1-503.- [Biopsie an Knochen durch Inzision] sämtlicher Lokalisationen übertragen. Dies würde dazu führen, dass z. B. eine während eines stationären Aufenthalts mit neurologischer Hauptdiagnose durchgeführte Knochenbiopsie an der Großzehe in die Abrechnung einer der sehr hoch bewerteten o. g. Kraniotomie-DRGs münden kann.
- einzelne OPS-301-Kodes Fallgruppen zugeordnet wurden, obwohl diese Leistungen in der australischen Version nicht zu finden sind
Beispiel: Den DRGs L06A und L06B für „Kleine Eingriffe an der Harnblase“ wurde in der G-DRG Version 0.9 der OPS-301-Kode 8-020.1 [Therapeutische Injektion Harnorgane] zugeordnet, ohne dass diese Leistung in der australischen Vorlage enthalten wäre. Die Folge wäre, dass schon die Instillation eines Medikamentes über einen Blasenkatheter zur Abrechnung der im Vergleich mit einer konservativen DRG höher bewerteten DRGs L06A und L06B führen kann.
- und die völlig unspezifischen OPS-301-Kodes [Prozedur, nicht näher bezeichnet], welche keine Entsprechung im MBS besitzen, mit in die G-DRG-Zuordnung übernommen wurden und OPS-301-Kodes für [Sonstige Prozeduren (näher bezeichnet)] teilweise unscharf zugeordnet wurden.
Beispiel: Der DRG F20Z [Unterbindung und Stripping von Venen] werden in der deutschen Version eine Reihe sonstiger bzw. nicht näher bezeichneter Kodes zugeordnet (Naht von/Operativer Verschluss an Blutgefäßen, OPS-Kodes: 5-388.x -.y, 5-389.x, -.y). Diese unspezifischen Kodes bilden sowohl Eingriffe an venösen als auch an arteriellen Gefäßen ab. In der australischen Gruppierungslogik sind hier jedoch ausschließlich Verfahren an venösen Gefäßen aufgelistet. In der deutschen DRG F20Z sind zusätzlich Nahtverfahren an venösen Gefäßen aufgelistet, die nicht in der australischen Gruppierungslogik enthalten sind. Dazu gehören Nähte an der V. pulmonalis, cava superior, cava inferior und der oberflächlichen Venen.
Weil die hier nur exemplarisch beschriebenen Modifikationen sich nicht auf empirischer Datengrundlage, sondern „am grünen Tisch“ der beauftragten Firma ergeben haben, entsteht jenseits der durch das Mapping ohnehin in Kauf zu nehmenden Unschärfen in vielen Details eine Verfälschung der ursprünglichen DRG-Definitionen. Diese führen unweigerlich zu ökonomisch relevanten Verzerrungen der DRG-Kostengewichte mit der Folge entsprechender Fehlanreize in der Abrechnungspraxis. Sofern die Kalkulationsdaten den Fallgruppen bei der Ermittlung der Kostengewichte direkt entsprechend der G-DRG-Handbücher Version 0.9 zugeordnet werden, wird es kaum möglich sein, die sich aus einer unterschiedlichen Qualität der Kostendaten ergebenden Inkonsistenzen von den primär auf das Mapping zurück zu führenden Abweichungen zu unterscheiden. Dieses wird eine sachgerechte Anpassung der AR-DRGs an die deutsche Leistungswirklichkeit verzögern. Werden die in größerer Zahl vorhandenen mapping-bedingten Inkonsistenzen erst nach der abrechnungswirksamen DRG-Einführung behoben, werden die dadurch erhöhten Schwankungen der DRG-Kostengewichte die jahresübergreifende Planung und Vergleiche der Budgetentwicklung bei Krankenhäusern und Kostenträgern deutlich erschweren.
Auf Grund der sich bei erster Prüfung abzeichnenden gravierenden Mängel lehnen Bundesärztekammer und AWMF den Einsatz der unter erheblichem Zeitdruck, intransparenten Bedingungen und offenbar ohne die erforderliche Validierung entstandenen Version 0.9 der G-DRG-Handbücher als Grundlage eines abrechnungswirksamen DRG-Optionsmodells ab. Bundesärztekammer und AWMF waren an der Erstellung der Handbücher nicht beteiligt und weisen daher jede Mitverantwortung für daraus resultierende Fehljustierungen des einzuführenden DRG-Vergütungssystems von sich.
Zur Fehlerbereinigung wird die vollständige Offenlegung der Mappingtabellen, die Markierung und nachvollziehbar begründete Zuordnung kritischer Bereiche durch Fachgruppen mit anschließender Validierung anhand repräsentativer Echtdaten deutscher Krankenhäuser gefordert. Darüber hinaus müssen die in den AR-DRG-Versionen 4.2 und 5.0 vorgenommenen Fehlerkorrekturen bei der Erstellung der deutschen Übersetzung berücksichtigt werden. Die resultierende Rohfassung des G-DRG-Fallpauschalen-Katalogs könnte dann im Jahr 2003 auf Simulationsbasis verbindlich für alle Krankenhäuser eingesetzt werden. Auch hinsichtlich des Procedere bei der Kalkulation der DRG-Relativgewichte bestehen größte Bedenken: Angesichts der auch hier erfolgten Fremdvergabe des Kalkulationsauftrages und nicht transparenter Regeln bei der Kostengewichtsfestlegung haben viele Krankenhäuser, darunter die Mehrheit der Universitätskliniken die Einwilligung zur Weitergabe ihrer Kostendaten an einen kommerziellen Auftragnehmer nicht gegeben. Es ist zweifelhaft, ob die zur Auswertung gelangenden Kalkulationsdaten so noch als repräsentativ bezeichnet werden können. Bei Fortführung der Arbeiten innerhalb gemeinsam getragener Strukturen hätte die jetzt zusätzlich drohende Datenschieflage vermieden werden können.
Ein weiteres Problem des nun weitgehend am grünen Tisch entstehenden Optionsmodells ist die unter anderem noch ungelöste Frage der DRG-externen Zusatzentgelte nach § 17 b Abs. 1 Satz 12 KHG und der „Sonstigen Entgelte“ nach § 6 Absatz 1 KHEntgG: Art und Umfang der aus den DRGs herauszunehmenden Leistungen sollten eigentlich vor der Festlegung der DRGs und ihrer Relativgewichte bekannt sein. Auch die dringend erforderliche Beantwortung der Frage, wie die im DRG-System nur unzureichend abgebildeten Leistungsbereiche wie z. B. Intensivmedizin, Onkologie und Transplantationsmedizin unter den ordnungspolitischen Rahmenbedingungen des künftigen DRG-Vergütungssystems noch adäquat finanziert werden können, wird durch ein solches Vorgehen unnötig verzögert. Somit ist zu befürchten, dass sich das G-DRG-Optionsmodell 2003 in der tatsächlichen Praxis weniger als Annäherung des als Basis gewählten australischen AR-DRG-Systems an die deutsche Leistungswirklichkeit, sondern als dessen „Entstellung“ erweisen wird. Dieses wird dem weiteren Fortgang der Einführung des neuen Fallpauschalensystems insbesondere auf Grund der zu erwartenden negativen präjudizierenden Wirkung einer mit deutlichen Mängeln behafteten G-DRG-Erstfassung mehr schaden als nützen.
Ein Vergütungssystem, das Krankenhauserlöse von jährlich bis zu 50 Milliarden Euro verteilen soll und durch seine Anreize auch die angrenzenden Versorgungsbereiche beeinflussen wird, muss unter für alle Beteiligten rechtzeitig transparenten Bedingungen eingeführt werden. Auf der Seite der für die Systemeinführung verantwortlichen Institutionen müssen klare Zuständigkeiten, feste Ansprechpartner und handlungsfähige Entscheidungsstrukturen bestehen. Vieles davon ist zwei Monate vor Ablauf der Entscheidungsfrist der Krankenhäuser für den optionalen DRG-Eintritt ab 2003 noch nicht erkennbar.
Bundesärztekammer, AWMF und Fachgesellschaften haben den Vertragsparteien der Selbstverwaltung seit der gesetzlichen Vorgabe der Einführung eines DRG-Vergütungssystems mit dem GKV-Gesundheitsreformgesetz 2000 vom 17.12.1999 wiederholt, aber leider vergeblich eine enge und kontinuierliche Kooperation mit dem Ziel einer sachgerechten Umsetzung der erforderlichen Anpassungsmaßnahmen angeboten. Bundesärztekammer und AWMF erneuern und bekräftigen an dieser Stelle ihr Angebot einer Zusammenarbeit mit Politik und Selbstverwaltung unter realistischen Zeitvorgaben und innerhalb klarer Entscheidungsstrukturen. Sie richten zu diesem Zweck eine Ständige Fachkommission für das DRG-Vergütungssystem mit festen Ansprechpartnern für die betroffenen Fachgebiete ein. Diese Fachkommission steht auch für eine weitere Zusammenarbeit zur Verfügung.
Bundesärztekammer und AWMF weisen darauf hin, dass ein Projekt von der Tragweite der DRG-Einführung nur in Kooperation mit den maßgeblich Betroffenen zum Erfolg führen kann. Zusammenfassend erneuern Bundesärztekammer und AWMF ihre mehrfach vorgetragene Forderung, lieber auf die übereilte Einführung eines nur ungenügend übersetzten und auf die Anwendung in Deutschland hin angepassten DRG-Systems zu verzichten, als mit aller Gewalt ein die Umsetzung neuer Finanzierungsformen eher behinderndes denn förderndes System durchsetzen zu wollen.
Bundesärztekammer und AWMF halten es für den falschen Ansatz und falschen Weg, die Leistungen der Krankenhäuser auf der Basis eines nicht geprüften, nicht validen und noch dazu in sich unstimmigen DRG-Systems zu vergüten. Eine besondere Gefahr sehen Bundesärztekammer und AWMF in der Verstetigung der Fehlanreize, die mit dem jetzt vorgelegten Entwurf gesetzt werden. Bundesärztekammer und AWMF sehen weder medizinisch, noch technisch oder kalkulatorisch die Voraussetzungen für eine verantwortungsbewusste Umsetzung des gesetzlich angestrebten Optionsmodells 2003 erfüllt. Sie fordern daher nochmals, das G-DRG-System im Jahr 2003 zunächst im Rahmen einer Simulation auf bundesdeutscher Datenbasis zu validieren und die vorhandenen groben Fehler zu bereinigen. Ein abrechnungsrelevanter Einsatz des neuen Vergütungssystems für Krankenhausleistungen unter geschützten Bedingungen kommt erst dann in Betracht, wenn ein ausreichend geprüfter und mit der Selbstverwaltung konsentierter Entwurf des G-DRG-Systems vorliegt.